Unbekannte Dame aus dem Dielenboden – Ein rätselhaftes Fundstück
- tomaszk
- 26. Nov.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Nov.
Während der Sanierungsarbeiten im Schloss Gruszów – dem ehemaligen Schloss Birkholz – ereignete sich ein Fund, wie man ihn sonst nur aus Archiven oder Romanen kennt. Bei der Demontage des alten Holzbodens, verborgen zwischen den Dielen und dem Staub vergangener Jahrzehnte, tauchte eine historische Fotografie auf: das Porträt einer elegant gekleideten Frau aus der Zeit vom Ende des 19. Jahrhunderts
Wer diese Dame ist? Läßt sich dieses faszinierende Rätsel lösen?
Die Spurensuche beginnt

Nach dem Fund wandten wir uns zunächst an die Nachfahren der letzten Vorkriegsbesitzerfamilie von Dresky, um mögliche familiäre Hinweise zu erhalten. Doch die Rückmeldungen waren eindeutig: Niemand konnte die abgebildete Frau identifizieren, weder als Bewohnerin des Schlosses noch als bekannte Besucherin.
So blieb uns nur der Weg der historischen und technischen Analyse – und dieser führte erstaunlich weit.
Eine Frau von Rang und Stil
Mit Unterstützung moderner KI-gestützter Bildrekonstruktion konnten wir die beschädigte Aufnahme restaurieren und sogar verblichene Schriftzüge auf der Rückseite sichtbar machen.
Die Frau erscheint etwa 35 bis 40 Jahre alt zu sein, trägt ein hochgeschlossenes Kleid mit floraler Stickerei und verfügt über die würdevolle Haltung, wie sie in der späten Kaiserzeit typisch für repräsentative Porträts war. Alles – Kleidung, Pose, Fototechnik – deutet auf eine gebildete Frau aus dem gehobenen Bürgertum oder niederen Adel.
Sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite der Aufnahme finden wir den Namen des Ateliers vom Hoffotografen Eugen Kegel in Kassel. So haben wir uns zuerst mit dem Fotografen und seiner Technik beschäftigt.
Kabinettfotografie – ein Medium des bürgerlichen Selbstbewusstseins
Die gefundene Aufnahme ist eine klassische Kabinettfotografie (Carte de Cabinet), ein größeres Porträtformat, das besonders ab den 1870ern beliebt war. Die robuste Kartonmontage – im Fall unseres Fundes 10,8 × 16,5 cm – entspricht genau der Norm dieser Zeit. Auffällig sind auch die kunstvoll gestalteten Rückseiten, die stets als Werbefläche für die Fotografen dienten.
Solche Karten wurden meist bewusst in renommierten Ateliers angefertigt – ein weiterer Hinweis auf den gesellschaftlichen Rang der unbekannten Dame.
Eugen Kegel – Hofphotograph aus Kassel

Der Fotograf der Aufnahme, Eugen Kegel, war einer der angesehenen Porträtfotografen im Kassel des späten 19. Jahrhunderts. Im Jahr 1873 übernahm er das Fotoatelier seines Vaters in der Großen Rosenstraße 5 und war vermutlich bis zu seinem Tod im Jahr 1901 tätig.¹
Seine Arbeiten zeigen die typische Ästhetik der Epoche: feine Ausleuchtung, klare Komposition und ein repräsentativer Stil, wie er von Hof- und Bürgerporträts verlangt wurde.
„Prämiert mit dem ersten Preise Frankfurt a.M. 1883“ – ein Werbesiegel?
Auf der Rückseite der Karte findet sich der Druck:„Prämiert mit dem ersten Preise Frankfurt a.M. 1883“.
Die Recherche in zeitgenössischen Quellen – Photographische Mitteilungen, Photographische Correspondenz, Frankfurter Tagespresse – legt nahe, dass diese Auszeichnung auf eine Gewerbe- oder Kunstausstellung in Frankfurt 1883 verweist.² Zwischen 1880 und 1885 fanden solche Ausstellungen regelmäßig statt, und Fotografen konkurrierten dort um Preise.³
Obgleich wir Kegels Namen nicht eindeutig in den Preisträgerlisten finden konnten, entspricht die Formulierung den damals üblichen Werbestrategien vieler Ateliers.⁴ Sie diente dem Ruf – und zweifellos auch der Kundengewinnung.
Das rätselhafte Atelierwappen

Auf dem Karton findet sich zudem ein prägnantes, reich ornamentiertes Atelierwappen: zwei Löwen, eine dekorative Schildform und das Motto „Fideliter et constanter“ („treu und beständig“).
Ein Vergleich mit den offiziellen historischen Wappen der Region – etwa:
dem Kurfürstentum Hessen-Kassel,
dem Haus Hessen,
und der Provinz Hessen-Nassau –
zeigt jedoch, dass Kegels Emblem kein staatlich oder dynastisch belegtes Wappen ist.⁵ Es handelt sich vielmehr um eine ästhetisch gestaltete Eigenkreation, wie sie in vielen Fotoateliers der Zeit üblich war. Sie sollten Seriosität, Kunstfertigkeit und Nähe zur höfischen Kultur vermitteln.⁶
Gerade ein Hoffotograf wie Kegel nutzte solche Embleme bewusst als visuelles Qualitätsversprechen.
Das große Rätsel: Wer ist die Frau?
So viel konnten wir also herausfinden – über die Technik, den Fotografen, das Format, das verwendete Wappen und selbst die Werbeformeln des Ateliers.
Doch die wichtigste Frage bleibt ungeklärt:
Wer ist die Dame, deren Bild über 120 Jahre lang unter dem Boden des Schlosses verborgen lag?
War sie:
Eine Bewohnerin des Schlosses Birkholz?
Eine Angehörige der Familie von Dresky?
Eine Besucherin, die sich während einer Reise nach Kassel porträtieren ließ?
Oder steht die Fotografie in keinem direkten Bezug zum Schloss – wurde sie vielleicht viel später dorthin gebracht?
Keine der untersuchten Quellen, keine Archive, keine Rückmeldungen von Nachfahren geben einen Hinweis. Das Bild bleibt ein stilles, aber kraftvolles Zeugnis einer unbekannten Frau, deren Geschichte für uns verloren ging – aber deren Gesicht unverhofft den Weg zurück ans Licht fand.

Fazit: Das Porträt einer Unbekannten als Fenster in die Vergangenheit
Der Fund bietet uns einen seltenen Einblick in die Lebenswelt des späten 19. Jahrhunderts: in die Ästhetik der Kabinettfotografie, in die Werkstatt eines renommierten Hofphotographen und in die Selbstinszenierung einer Gesellschaft, die Wert auf Repräsentation legte.
Doch trotz aller technischen Analyse, historischer Recherche und Spurensuche bleibt die zentrale Figur dieses Fundes anonym. Was bleibt, ist eine Geschichte voller Andeutungen, ein Fragment einer Biografie und ein ästhetisch beeindruckendes Porträt einer Frau, deren Identität wir wohl nie klären können.
Was uns beeindruckte und erhalten bleibt ist das wunderbare Ergebnis der KI-gestützter Rekonstruktion.
Ein Rätsel – aber ein schönes.
Fußnoten
Adressnachweis u. a. im Adreß-Buch der Stadt Cassel verschiedener Jahrgänge (digitalisiert in der Universitätsbibliothek Kassel).
Photographische Mitteilungen, Jahrgänge 1882–1884, digitalisiert über die Digitale Bibliothek der SLUB Dresden und der Universität Heidelberg.
Hinweise auf Frankfurter Gewerbeausstellungen finden sich u. a. in der Frankfurter Zeitung (Jahrgang 1883) und in den Jahresberichten des „Gewerbevereins Frankfurt“.
Zu Werbepraktiken fotografischer Ateliers siehe: Julius Schnauss, Lehrbuch der Photographie, 5. Aufl., 1885; sowie diverse Anzeigen im Illustrirten photographischen Wochenblatt der 1880er Jahre.
Vergleich anhand heraldischer Standardwerke, u. a. Ströhl: Deutsche Wappenrolle (1897) und Siebmacher, Wappenbuch, sowie Digitalisate der Landesbibliothek Kassel.
Zur Nutzung pseudoheraldischer Atelierwappen siehe: Monika Faber, Die Rückseiten der Fotografie: Atelierkultur 1860–1900 (Wien, 2009).







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